Claudio Hils | Visuelle Kommunikation

Ravensburgprojekt

Das Ravensburger Stadtfotografen-Stipendium: Projektbeschreibung von Claudio Hils und Thomas Knubben, Januar 2000

Im Jahr 2000 beginnt die Stadt Ravensburg eine mehrjährige fotografische Feldforschung, eine sukzessive soziale und ästhetische Selbsterkundung. Über zunächst fünf Jahre hinweg werden jährlich wechselnde Fotokünstler eingeladen, sich mit dem städtischen Raum auseinanderzusetzen. Vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Medien, der Globalisierung und Beschleunigung der Lebenswelten werden diese Fotografen künstlerisch-dokumentarische Positionen zum sozialen und kulturellen Lebensraum Stadt zu Beginn des 21. Jahrhunderts beziehen.

Das Gewöhnliche und Alltägliche, das Gegenstück zur herrschenden Eventkultur wird im Mittelpunkt ihrer fotografischen Untersuchung stehen. Die Fotografen und Fotografinnen sind eingeladen, den Blick zu schärfen. Der Blick von aussen soll dazu beitragen, den inneren Blick zu erweitern. Angesiedelt ist diese Spurensuche an den Schnittstellen des Öffentlichen und des Privaten.

Die Intensität des Erlebens durch die Fokussierung von aussen kann und soll eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Wahrnehmungen bewirken. Am Versuchsfeld Ravensburg werden die Fotografen zeigen, inwieweit individuelle und kollektive Identität durch den erweiterten Blick von aussen bestätigt oder in Frage gestellt wird. Denn eines ist anzunehmen: die Bilder werden gegen Konventionen verstoßen, werden Sehgewohnheite durchbrechen. Sie werden aufmerksam machen auf Zwischenräume, auf vergessene Augenblicke, auf bislang Übersehenes. Die Irritationen, die daraus entstehen können, sind erwünscht. Denn der erweiterte Blick dient als Chance, mit Toleranz und Offenheit eine gesellschaftliche Diskussion über die Qualität und Ausprägung der eigenen Lebenswelt und des eigenen Lebensentwurfs am Beispiel einer Stadt, am Beispiel Ravensburgs in Gang zu bringen.

  • Joachim Brohm – Fahren (2005)
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    Wie kann man sich einer Stadt im Zeitalter der globalen Mobilität, der weltweiten informationstechnischen Vernetzung und der visuellen Entropie angemessen nähern? Wie sich ein eigenes, ein stimmiges Bild von ihr verschaffen? Virtuell oder real? Über umfassende Vorabinformation oder durch spontane Begegnung? Mit dem Auto, per Bahn, aus der Luft oder zu Fuss? Allein oder in Gesellschaft? Planlos flanierend oder mit festem Konzept?

    Im Jahr 2000 initiierte die Stadt Ravensburg ein Stipendium für zeitgenössische Fotografie. Symbolträchtig zur Jahrtausendwende begonnen, wurden über fünf Jahre hinweg VertreterInnen der künstlerisch-dokumentarischen Fotografie eingeladen, sich mit dem sozialen und kulturellen Lebensraum einer Stadt auseinander zu setzen.

    Joachim Brohm hat nun als fünfter Stipendiat Position bezogen, oder richtiger: die feste Position verlassen, um mit dem Vehikel, das wie kein anderes das moderne Leben bestimmt, die Stadt zu umkreisen. Mit verschiedenen Automobilen, offenen und geschlossenen, bereitgestellt von lokalen Händlern, befuhr er als Chauffeur oder Passagier die Strassen in und um Ravensburg. Die Kamera in der Hand und unzählige automotive Szenen im Kopf suchte er die Begegnung mit der Stadt von der Peripherie der Umgehungsstrasse aus.

    Brohm versteht fahren in des Wortes ursprünglicher Bedeutung: als erfahren und wahrnehmen, als physische und emotionale Veränderung, auch als Wagnis des sich Einlassens, des Fahren Lassens.

  • Peter Hendricks – Das Ravensburgprojekt (2004)
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    „Für mich strebt jedes Foto, jeder Ausschnitt eines Fotos, unabhaengig von Form und Inhalt erfolgreich danach, ernst genommen zu werden. Das Foto beugt sich weder Handwerk noch schule und das ist für mich eine seiner liebenswertesten Eigenarten.“

    Peter Hendricks

    Ist der Fotografie noch zu trauen? Kann ein Medium, dessen technischen Fertigkeiten und manipulativen Möglichkeiten so hoch entwickelt sind, wirklich wahrhaftig sein? Haben sich die visuellen potenzen des Apparates nicht erselbständigt und subjekte wie Objekte der Fotografie zu blossen Erfüllungsgehilfen eines autonomen Bildverfertigungsprozesses gemacht? Worin besteht dann aber das Dokumentarische im Objekt- und worin das Künstlerische im Autoren-bezug der zeitgenössischen Fotografie? Peter Hendricks Ravensburgprojekt geht solchen Fragen nach Erkenntnis und Interesse im Medium der fotografie nach. Es ist dabei Teil eines mehrjährigen Fotoprojektes der Stadt Ravensburg, das sich in einer Art Feldforschung auf die Suche nach gültigen Bildern einer deutschen Kleinstadt zu Beginn des 21. Jahrhunderts gemacht hat.

  • Eva Bertram – Vor der Tür (2003)
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    Die Foto- und Videokünstlerin Eva Bertram aus Berlin hat als dritte Stipendiatin Position in Ravensburg bezogen. Sie fotografiert Dinge und Menschen in ihrem üblichen Umfeld. Ihr Thema ist die Deplatziertheit, das leicht Verschobene im Gewöhnlichen. Ausgestattet mit einer einfachen Kleinbildkamera mit Normalobjektiv gleicht ihre Vorgehensweise der des Flaneurs im ausgehenden 19. Jahrhundert. Mit präzisem Blick schält sie Momente des Daseins aus dem Fluss des Alltäglichen und formt sie zu poetischen Geschichten über das Leben, die Liebe, das Scheitern und die Unmöglichkeit der Perfektion.
    In ihrer Ravensburger Fotoarbeit mit dem Titel „Vor der Tür“ hat sie zahlreiche Bilder und Situationen aufgespürt, die gelegentlich bizarr, mitunter kurios, manchmal auch schlicht schräg wirken, immer aber ein Licht darauf werfen, wie Menschen sich in dieser, in ihrer Welt einrichten. Für ihre Bilderzählung ist dabei nicht nur die einzelne Fotografie, sondern auch deren filmische Abfolge und der Zwischenraum, der vom inneren Auge des Betrachters ausgefüllt wird, von Bedeutung. Manche der Aufnahmen Eva Bertrams durchzieht eine Tristesse, die Tristesse des unbarmherzig sich selbst Ausgeliefertseins. Viele der Bilder und der daraus entwickelten Geschichten sind jedoch auch durchzogen von einem sanften Lächeln, von einem leisen Humor im Sinne Marcel Duchamps: “When the serious is tinted with humour. It makes a nicer colour.

    Eva Bertrams Bildsequenzen werden in diesem Katalog durch Texte von Arnold Stadler und Christoph Schaden begleitet.

    Weitere Informationen:
    www.zone-b.info/kuenstler/eva-bertram/

  • Matthias Hoch – Begrenzte Übersicht (2002)
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    „Ich suche Klarheit in einer immer grösser, schneller und unüberschaubarer werdenden Welt. Feste Formen gegen das Zerfliessen. Markierungen voller Kraft, die im Unterbewussten haften. Eng gefasste Bilder, herausgeschnitten aus Raum und Zeit, übersetzt in Formen und Farben auf eine zweidimensionale Fläche. Verselbständigung der Dinge zu zweckfreien Skulpturen. Mit dem Ziel, den durch das Bilderbombardement zerstreuten Blick festzuhalten. Mit einem Werkzeug, das Genauigkeit, Konzentration und Intensität ermöglicht. Mit dem Medium Fotografie.“

    Matthias Hoch

    Der erste Stipendiat, Zoltan Jokay, fokussierte in seiner Arbeit ausschliesslich Menschen. Der Intensität des Blickes in der Begegnung mit Menschen folgt nun der kühle, nüchterne Blick des Leipziger Fotokünstlers Matthias Hoch. Auch bei Hoch wird der Betrachter illustrative Ravensburgbilder vergeblich suchen. Hochs Blick zeigt seine subjektive, konzentrierte Position zum Thema Raum und Urbanität. Vergleicht man die in Ravensburg entstandene Bildgruppe mit seinen Bildern der Metropolen Brüssel, Paris oder Frankfurt, so wird nur über die Bildbezeichnungen eine Unterscheidung und Zuordnung der einzelnen Orte möglich. Und bereits der Titel seiner in Ravensburg entstandenen Arbeit „Begrenzte Übersicht“ macht deutlich, dass auch bei Hoch Wirklichkeit nicht abgebildet, sondern neu geschaffen wird.

    Claudio Hils, Thomas Knubben

  • Zoltán Jókay – der, die, das (2001)
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    Wieso, weshalb, warum

    Zoltan Jokay gehört zu den zeitgenössischen Fotografen, die künstlerisch-dokumentarisch mit dem Medium Fotografie arbeiten. Seine Bilder beschäftigen sich fast ausschließlich mit dem Genre der Porträtfotografie. Bereits während seines Studiums in Essen entdeckte Jokay sein Interesse am Porträt. Daraus resultierte seine erste Arbeit mit dem Titel: sich erinnern. Der Titel bezieht sich auf die theoretische Auseinandersetzung Roland Barthes mit Fotografie und Thesen zur Erinnerung durch Bilder. War die erste Arbeit Zokays eher noch als Selbstfindungsprozess zu sehen, löste er sich davon in seiner Folgearbeit: sich begegnen.
    Nicht mehr die Erinnerung stand im Vordergrund, sondern das Zwischenmenschliche, die Begegnung. Daran anknüpfend, entstand dieses in Ravensburg realisierte Projekt.
    Alle Arbeiten haben etwas deutlich verbindendes, die Haltung des Menschen und Fotografen Zoltan Jokay und dessen Blick auf die Menschen.
    Das Dargestellte besteht aus vermeintlichen Alltagssituationen. Personen im städtischen Umfeld, dem Zuhause oder am Arbeitsplatz. Fast beiläufig scheint der Fotograf die Szenen gefunden und festgehalten zu haben. Meist sind es Einzelpersonen auf seinen Bildern, seltener kleine Gruppen, manchmal Familien oder Freunde. Immer sind es Hochformate, in denen die Personen zentriert gesetzt sind. Einfache, aber konsequent eingesetzte Stilmittel bestimmen das Einzelbild, durch das Serielle bekommt seine Arbeit eine provozierende Strenge. Meist gilt der Blick der Kamera. Der Fotograf sucht den Blick des Porträtierten. Wenn er ihn nicht findet, so hat das etwas mit seinem Verhältnis zur abgebildeten Person zu tun. Die Farbigkeit hat etwas diffuses, es dominieren Erdtöne. Immer wieder tauchen jedoch satte Farbflächen auf, meist durch die Kleidung der Personen. In den Bildern wirken sie fremd. Auch die Körper, die Posen, die wenigen Accessoires, die in den Bildern Jokays zu sehen sind, wirken wie lästiges Beiwerk, teilweise aufgesetzt oder auch nur banal. Die Körper schweben in einem Zustand zwischen Schärfe und Unschärfe, sie sind Teil des intensiven Ausdrucks der Person, gleichzeitig aber verhaftet in dem rätselhaft dargestellten Zeichensystem Welt.
    Die zumeist extreme Ausschnitthaftigkeit des Umfeldes läßt nur eine vage informative Orientierung zu. Jokays technische Herangehensweise isoliert die Person durch die Schärfe der unscharfen Umgebung. Durch die Präzision der Mittelformattechnik und deren punktuell eingesetzte Schärfe erzeugt Jokay eine extreme Konzentration auf den Ausdruck der dargestellten Person. Die Welt scheint ausgeblendet, eine Leserichtung eingeführt. Alles konzentriert sich auf den Blick des anderen. Die Intensität der Begegnung erzeugt ungewohnte Nähe, Irritationen, teilweise eine seltsame Intimität. Wie ein Spieler setzt Jokay in seinen Bildern alles auf eine Karte. Die emotionale Verbundenheit als Ausdruck flüchtiger Nähe, als kleiner Augenblick von Glück, etwas am Anderen, was einem gleicht, ein kleiner Makel, vielleicht auch nur die Bereitschaft sich dem Anderen zu zeigen.

    Der Neugier, die beim Betrachten eines Porträts entsteht, das Bild auf Posen oder Fehler, auf Diskrepanzen zwischen Bild und Person hin zu untersuchen, um der Person durch diese visuellen Prüfung eigene Erfahrung hinzuzufügen und zu einem vorläufigen Urteil über die Person zu kommen, begegnet etwas ungewöhnliches, eine Art von Vertrautheit mit dem Fremden. In Kindergesichtern begegnet uns der entschiedene Ausdruck von Erwachsenen, Erwachsene wirken verloren in der Welt des Augenblicks. Sie scheinen kleine Geheimnisse preiszugeben, die man sonst vielleicht nur mit einem guten Freund teilt. Dadurch entsteht eine Art von Schicksalsgemeinschaft. Vage Konstruktionen, die auf den Moment persönlicher Empfindungen aufgebaut sind und nicht auf Dauer. Die Ausdehnung des Momentes zu existenzialistischen Fragezeichen stellt den Betrachter auf die Probe.
    „Woher weiß ich, daß Du traurige Augen hast? Woher weißt Du, daß ich glücklich bin?“, fragt Jokay. Die Welt, sie ist immer eine andere.

    Zoltan Jokay versucht bei seiner Arbeit über die Darstellung der abgebildeten Personen einen innerlich gefühlten Zustand sichtbar zu machen. Dieser Blick auf das Gefühl lebt nicht von der Oberfläche der Bilder. Weder Licht, Form, noch die sozialen Verweise seiner Fotografien helfen weiter die Qualität und die Intensität seiner Fotografien zu verstehen. Es ist vielmehr die Intimität des Momentes, die uns bei der Betrachtung seiner Fotografien in Bann zieht. Um diese Bilder zu erleben, bedarf es eines gewissen Vertrauens zwischen Fotografen und abgebildeter Person. Jokay`s Herantasten an diese Augenblicke ist Teil der Arbeit und gleichzeitig ein sozialer Prozess. Der Betrachter wird Teil dessen.

    Es gehört Mut dazu, in einer Welt der kommerzialisierten Emotionen mit diesen leisen, schwebenden Momenten anzutreten. Man könnte leicht übersehen werden. Werden diese Bilder aber als Umkehrung der uns umgebenden Bilderwelt gelesen, sind sie auf schlüssige Art und Weise extrem. Die Genügsamkeit der fotografischen Mittel, die konsequente Entscheidung zum Seriellen der Arbeit, das Vertrauen auf ein Gefühl. In diesem selbstgebauten Käfig bewegt sich der Fotograf mit großer Sicherheit. Diese Enge,
    diese Konzentration auf die Auseinandersetzung mit dem Ausdruck einer Person läßt auch Rückschlüsse auf das Wesen des Fotografen zu. Er ist jemand, der unbequem sein kann bzw. auch unbequem sein will, der seinen Standpunkt vertritt, auch gegen Zeitgeist oder fotografische Strömungen. Er hat etwas gefunden, auf dem er beharrt.

    Zoltan Jokay studierte von 1984 bis 1993 an der GHS-Universität Essen Kommunikationsdesign. Er verfolgt seitdem ausschließlich den von ihm eingeschlagenen künstlerisch-dokumentarischen Weg. Vielleicht würde sich sogar der angewandte Bildermarkt für seine visuellen Konstruktionen interessieren, aber es ist ja nicht die visuelle Konstruktion, für die sich Jokay interessiert. Er erzählt uns eine Geschichte, die vor allem seine eigene ist. Es ist eine Geschichte mit vielen Tiefen, aber auch kleinen Höhen.
    Zoltan Jokay verweigert sich einer, in der Fotografie häufig anzutreffenden Wertung und einer Kategorisierung des Abgebildeten. Er schafft es mit seinen Bildern, der Welt und den Menschen Augenblicke abzugewinnen, die jeder auch als persönliche Erfahrung, als eigenen Seelenzustand und als eigene Erfahrung aus seinen Bildern liest.

    Claudio Hils

  • Publikationen
    • Joachim Brohm: Fahren

      Schaden, Köln, 2005
      ISBN 3-932187-09-1

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    • Peter Hendricks: Das Ravensburgprojekt

      Schaden, Köln, 2004
      ISBN 3-932187-08-3

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    • Eva Bertram: Vor der Tür | non-local

      Schaden, Köln, 2003
      ISBN 3-9807331-7-3

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    • Matthias Hoch – Begrenzte Übersicht | Limited Overview

      Schaden, Köln, 2002
      ISBN 3-9807331-5-7

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    • Zoltán Jókay: der, die, das

      Schaden, Köln, 2001
      ISBN 3-932187-21-0

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  • Ausstellungen
    • 2005
    • Joachim Brohm – fahren, Städtische Galerie Ravensburg, DE
    • 2004
    • Peter Hendricks – Das Ravensburgprojekt, Städtische Galerie Ravensburg, DE
    • 2003
    • Eva Bertram – Vor der Tür, Städtische Galerie Ravensburg, DE
    • 2002
    • Matthias Hoch – Begrenzte Übersicht, Städtische Galerie Ravensburg, DE
    • 2001
    • Zoltán Jókay – der, die, das, Städtische Galerie Ravensburg, DE